Mehr Zeit für Patienten!
„Meine hausärztliche Landpraxis in Wendelsheim, die ich seit 42 Jahren betreibe, führt mir tagtäglich vor Augen, wo die Probleme für ältere Menschen im Gesundheitsbereich liegen“, beginnt Dr. Günter Gerhardt das conSens-Gespräch.
Der Mediziner ist seit Juli 2020 Vorsitzender der Landesseniorenvertretung Rheinland-Pfalz. Zuvor hatte er 25 Jahre den Vorstandsvorsitz in der Landeszentrale für Gesundheitsförderung (LZG RLP) inne.
conSens: Herr Dr. Gerhardt, vor Kurzem haben Sie einen offenen Brief verfasst mit dem Vorschlag einer Zusammenarbeit der Ärzteschaft mit Patientinnen und Patienten. Weshalb ist dies nötig?
Dr. Gerhardt: Die Patienten, in erster Linie sehe ich hier Seniorinnen und Senioren, brauchen uns Ärzte, um gesund zu bleiben oder zu werden. Im Gegenzug benötigen wir Ärzte die große Zahl der Versicherten, um auf dringend nötige Veränderungen unseres Gesundheitssystems hinzuweisen. Den knapp 8000 niedergelassenen Kassenärzten in Rheinland-Pfalz stehen rund 1,2 Millionen versicherte ältere Menschen gegenüber – die natürlich ein deutlich größeres politisches Gewicht bilden.
conSens: Wo sehen Sie Probleme?
Dr. Gerhardt: Woche für Woche kommen Menschen zu mir in die Praxis, die mich um Unterstützung bitten. Zum Beispiel bei ihrer Einstufung der Pflegestufe. Hier wird oft zum Nachteil der Betroffenen entschieden. Das passiert auch, wenn ein Rentner eine Reha braucht, obwohl es immer heißt: „Reha vor Pflege“. Viele der älteren Patienten bleiben mit ihren Anträgen im Gestrüpp der Bürokratie hängen und hoffen dann auf Unterstützung der behandelnden Ärzte. Denn inzwischen ist eine Flut von Anträgen und Widersprüchen nötig, sei es für Maßnahmen nach dem Schwerbehindertenrecht, für eine Pflegestufe, eine Rehabilitationsmaßnahme oder eine Erwerbsminderungsrente.
conSens: Können Sie ein praktisches Beispiel nennen?
Dr. Gerhardt: Ja, gerne. Ein ganz aktuelles Problem ist der medizinische Einsatz von Cannabis. Cannabis auf Rezept ist ein Segen für Ältere mit beispielsweise Schmerzen. Denn andere Medikamente greifen Magen, Darm oder Leber an. Cannabis, richtig eingesetzt, lässt diese Organe in Ruhe, lindert Schmerzen und macht trotzdem nicht süchtig. Aber: Was ein Aufwand! Versicherte und Ärzte müssen lange Anträge schreiben, die zunächst abgelehnt werden. Dann folgt der Widerspruch, was einfach ist, weil nur ein Satz des Patienten. Dieser Widerspruch muss dann aber begründet werden, und hier wird wieder die Ärztin, der Arzt gebraucht.
conSens: Was wäre Ihr Vorschlag?
Dr. Gerhardt: Ich denke, nicht jeder Arzt muss das Rad neu erfinden. Deshalb wünsche ich mir eine Art Selbsthilfegruppe der Ärzte. Hier könnten sich Mediziner austauschen. Denn die Fragestellungen ähneln sich immer wieder: Wie beantrage ich am besten dies oder jenes? Wer hat Erfahrungen gemacht mit …? Es ist kaum zu glauben, aber bisher gibt es so einen Austausch nicht. Dabei würde ich meine Erfahrungen gerne weitergeben. Zum Beispiel weiß ich inzwischen, dass bestimmte „keywords“ in einem Antrag genannt werden müssen.
conSens: Keywords sind Schlüsselworte. Was meinen Sie damit?
Dr. Gerhardt: Bestimmte Schlüsselworte müssen im Antrag fallen, sonst droht die Ablehnung. Denn auf diese Worte hin werden Anträge geprüft. Wenn da zum Beispiel steht, „die beantragte Maßnahme dient zur Verhinderung des Pflegefalls“, wird die Chance, dass der Antrag positiv entschieden wird schon einmal größer. Über solche Dinge sollte man sich austauschen.
conSens: Wie können Seniorinnen und Senioren hier behilflich sein?
Dr. Gerhardt: 1,2 Millionen ältere Patienten haben, politisch betrachtet, ein ganz anderes Gewicht als die Ärzteschaft. Sie können gemeinsam auf die überbordende Bürokratie im Gesundheitswesen aufmerksam machen. Das große Ziel ist ja, als Arzt wieder mehr Zeit für meine Patienten zu haben, statt stundenlang am Schreibtisch Begründungen zu formulieren. Mir geht es um diejenigen, die wirklich bedürftig sind wie Krebspatienten, Rheumakranke und Menschen mit anderen Erkrankungen. Patienten wissen oft gar nicht, was ihnen an präventiven, kurativen und palliativen Leistungen zusteht: etwa alle vier Jahre eine Reha, damit sie nicht zum Pflegefall werden.
Klar ist: Wenn ich einen Antrag stelle, muss er natürlich substanziell korrekt sein. Allerdings muss der Vorgang einfacher werden und ohne Ablehnung durchgehen. Erfahrungsgemäß sind die betroffenen Patienten selbst gar nicht in der Lage, einen begründeten Widerspruch einzulegen, was ja auch nicht telefonisch möglich ist. Oft handelt es sich um sozialmedizinische Gutachten, das sind viele klein geschriebenen Seiten mit zahlreichen Paragraphen. Alleine gelassen wird dann oft vor der Bürokratie resigniert und die Ablehnung akzeptiert.
conSens: Was wäre der erste Schritt?
Dr. Gerhardt: Ich wünsche mir, dass sich Patienten und Ärzte – eventuell auch Apotheker – außerhalb der Praxen – natürlich auch online - treffen, um sich gegenseitig zu informieren und zu Multiplikatoren werden. Versicherte sind in Seniorenvertretungen, Vereinen, Selbsthilfegruppen und Ähnlichem organisiert. Diese können Mediziner zu Vorträgen und Diskussionen- auch online - einladen. Dabei sollten sowohl die Sorgen und Nöte der Versicherten zur Sprache kommen, als auch die der Ärzteschaft. So erhalten die Patienten zudem bessere Informationen, erkennen die Zusammenhänge im Gesundheitswesen und bekommen ein Gefühl für vermeidbare Fallstricke.